Flâneur d’Or 2001

Genf (GE): Plan directeur des chemins pour piétons

Eine Stadt hofiert dem Fussvolk


Die FussgängerInnen sollen ihr angeborenes “Stadtrecht”, den ihnen zustehenden Platz im öffentlichen Raum zurückerhalten: Dies ist der erklärte politische Wille der Genfer Stadtbehörden. Mit der bevorstehenden Genehmigung des städtischen Fussweg- Richtplans* rückt das Ziel einer attraktiven, sicheren und belebten Fuss-gängerstadt einen grossen Schritt näher. Bemerkenswerte an der Genfer Fusswegplanung ist nicht nur das sys-ematische und um grösstmögliche Transparenz bemühte Vorgehen in partizipativen Prozessen, sondern auch die begleitende mustergültige Öffentlichkeitsarbeit.
“Ferrazino will Genf den Fussgängern ausliefern”, titelte am 25.3.2000 die Tribune de Genève,nachdem das zuständige Exekutivmitglied die zweite Generation der Fussgängerplanung, den aufs Bundesgesetz über Fuss- und Wanderwege gestützten “Plan directeur des chemins pour piétons”, vorgestellt hatte. Jahrzehntelang war die Léman-Stadt zuvor dem Autoverkehr ausgeliefert worden – mit klassischer “verkehrstechnischer” Planung alter Schule.
Logische Folge des zunehmend weitmaschigen oder zerschnittenen Fusswegnetzes: Der Fussverkehr blieb in Genf mehr und mehr auf der Strecke (wie übrigens auch das fast gänzlich verbannte Tram, dessen – grenzüberschreitendes – Netz bis zu den Sechzigerjahren das ausgedehnteste in Europa war).

Der Beginn einer neuen Ära
Seither jedoch hat der Wind in Verwaltung und Politik gedreht. Ein auf 10 bis 15 Jahre angelegtes Aktionspro-gramm zur Förderung des Zufussgehens im städtischen Raum nimmt nach und nach Gestalt an. Auf die Mass-nahmenpläne zu Luftreinhaltung und Lärmschutz sowie zum Zweiradverkehr folgte 1995 der erste Plan Piétons. Mit dem im März 2000 aufgelegten Fussweg-Richtplan will man nun die nötigen Rahmenbedingungen schaffen, um überall dort koordiniert eingreifen zu können, wo die zu Fuss gehende Bevölkerung der Schuh drückt. Fussgängerfreundliche Lichtsignal-Regelungen, Schulwegsicherung, Schaffung einladender Begegnungsräume und Einkaufsmeilen,
Sicherung von Durchgangsrechten, flächige Verkehrsberuhigungsmassnahmen: Die Liste der Handlungsfelder und Ansatzpunkte, die der auf die Fussgänger-Planungen der Nachbargemeinden abgestimmte Richtplan unter einem Dach vereinigt, ist lang. Zudem will die Stadt damit gleichzeitig den Grundsätzen ihrer Agenda 21 vollends entsprechen können. Obwohl für ihn noch keine gesetzliche Grundlage vorhanden war, löste bereits der
“Plan Piétons” ab 1995 eine ganze Reihe punktueller Verbesserungen für den Fussgängerverkehr in einzelnen Quartieren (Jonction, Rod-Soubeyran, Cluse-Roseraie, Petit-Saconnex und Stadtzentrum) sowie im Bereich von Kreuzungen aus – nicht unbedingt spektakulär, aber sehr gezielt. Das Erfolgsrezept: ein enges Zusammenwirken aller beteiligten städtischen Stellen (Planung, Projektierung, Realisierung, Betrieb), immer unter Einbezug von betroffenen Anwohnervereinigungen, Eltern von Schulkindern, Fussgänger- und Veloorganisationen und Gewerbetreibenden. Ansprechende Umgestaltungen wie zum Beispiel die neue Seujet-Passerelle über die Rhone liegen ganz auf der Linie des Richtplans. Speziell erwähnenswert auch die auf mindestens 2.5 Meter verbreiterten Trottoirs und die Quartierstrassen mit Tempo 30 oder gar 20.

Gutes tun – und gut verkaufen!
Nicht weniger als 15 gefällig aufgemachte Publikationen, vom Aufkleber über Glückwunschkarten bis zum originellen Stadtführer, und dreissig verschiedene Veranstaltungen – Strassenaktionen, Tag ohne Auto, Wettb werbe, Vorträge etc. – säumen den bisherigen Weg des Stadtgenfer Fusswegnetzes. Informations- und Marketingarbeit gilt hier zu Recht als wesentlicher Bestandteil der Bemühungen, dem Fussverkehr freie Bahn zu ver-schaffen. Man spannt die Massenmedien ein und bedient sich aller andern verfügbaren Informationskanäle – Tourismusbüro, Museen, Hotels, private Organisationen usw. –, um die Fortbewegung per eigene Füsse popu-lär zu machen. Und wer unter www.ville-ge.ch surft, bekommt nicht nur den Jet d‘eau zu Gesicht, sondern stösst bereits auf der Einstiegsseite auf den Plan Piétons. Ein Besuch der übersichtlich und ansprechend ges-talteten Site lohnt sich.

Im öffentlichen Bewusstsein verankert
Plan Piétons heisst: Sicherheit und Komfort für die zu Fuss Gehenden auf einem attraktiven, lückenlosen Fusswegnetz, auf den täglichen Wegen im Quartier so gut wie beim Spazieren und Promenieren. Noch ist Genf nicht das Fussgängerparadies auf Erden, aber: Das schon Erreichte und die Tatsache, dass bei der Planung und Ausführung von Verkehrsanlagen und –massnahmen kein Weg mehr an den zu Fuss Gehenden vorbeiführt, machen die Stadt Genf zur würdigen Gewinnerin des Innovationspreises Fussverkehr 2000/2001.

Die 5 Stossrichtungen des Richtplans
  • 1. Encourager les promenades
    Das Stadtwandern ist des Genfers Lust! Der Richtplan vernetzt die übers ganze Stadtgebiet verstreuten Erholungsräume und kulturellen Stätten mit attraktiven Fuss- und Wanderwegen.
  • 2. Valoriser des lieux et des places par quartier
    Aufwertung des öffentlichen Raums: Sitzbänke und Platz für FussgängerInnen, wo früher Autos verkehrten oder parkten (Sektor Rue des Sources).
  • 3. Faciliter les mouvements piétons
    Freie, sichere Bahn für den Fussverkehr, gerade auch im Umfeld von Schulhäusern: an der Rue de Berne unter Einrichtung einer Wohnstrasse.
    * Richtpläne haben eine koordinierende Funktion zwischen den im öffentlichen Raum planenden und bauenden Akteuren, zwischen Kantonen und Gemeindeverwaltungen. Sie müssen Ziele und Abläufe für alle beteiligten Stellen transparent machen. Der Richtplan ist behördenverbindlich und sieht einen Zeithorizont von 10–15 Jahren vor.
  • 4. Eliminer les obstacles aux piétons
    Solche “Sackgassen” soll es in Genf keine mehr geben.
  • 5. Modérer le trafic à l’échelle de quartier
    Flankenschutz für die Genfer Fussverkehrspolitik: Mehr und mehr hält auf den untergeordneten
    Strassen in den Wohnquartieren Tempo 30 Einzug.
Interview mit Frau Wiedmer-Dozio
Frau Wiedmer-Dozio, was bedeutet der Fussverkehr-Innovationspreis für das Stadtplanungsamt und seine Verantwortlichen?
Zunächst ist er eine schöne Anerkennung, die uns unheimlich gefreut hat. Als wir das Projekt starteten, sprach in stadtplanerischem Zusammenhang so gut wie niemand vom Fussgänger als solchem. Nun ist der “Plan Piétons” in Genf Stadtgespräch. Dank den 10'000 Franken Preisgeld starten wir am kommenden 14. Juni zur Einweihung der sechsten thematisch-kulturellen “Promenade”, gemeinsam mit einer französischen Gemeinde und dem französischen Konsulat, eine breite Kampagne in mehreren Genfer Gemeinden. Wir versuchen, dem Fussgängerbild auch einen spielerischen Touch zu geben: Er soll sich in der Stadt frei bewegen können, ohne zu Schulweg zu sichern oder ein Durchgangsrecht über privaten Boden zu erlangen, packen wir diese beim Schopf. Zu Diskussionen Anlass gibt vor allem die flächendeckende Verkehrsberuhigung, die der neue Plan mit sich bringt.
Woraus nährt sich die da und dort offenbar fortbestehende Opposition oder Skepsis?
Ich glaube, dass man quer durch alle Lager begriffen hat, dass sich die Fussgängeranliegen nicht mehr unter den Tisch wischen lassen. Das “volet 1”, die Spazierwege, hat derart Erfolg, dass niemand mehr daran rütteln wird. Alle Massnahmen, die keinen zusätzlichen Raum für den Fussverkehr bedingen, gehen eigentlich glatt über die Bühne. Sobald es aber – im volet 2 – darum geht, Platz für ihn zurückzugewinnen, sei dies auf privatem Boden oder auf Kosten anderer, vor allem des Autoverkehrs, wird’s schwieriger. Dass man dieses Problem angeht, das ist das Neue an dieser zweiten Generation des “Plan Piétons”. Und wenn Sie hier vorwärts kommen wollen, müssen Sie versuchen, sich mit betroffenen Privatpersonen und den BenutzerInnen des öffentlichen Raums gütlich zu einigen.
Spielt Tempo 30 eine Rolle im Richtplan?
Ja, und zwar im 5. “volet”. Es gibt in Genf schon eine Reihe kleiner Tempo-30-Zonen, doch haben sie zu wenig System, um der Stadtlandschaft ihren Stempel aufzudrücken und für alle VerkehrsteilnehmerInnen gleichermassen erkennbar zu sein. Sie müssen quartierweise eingerichtet werden, um den ganzen Innenraum zwischen den Hauptachsen des übergeordneten Netzes abzudecken. Dort wiederum streben wir bessere Querungsmöglichkeiten an: In Genf passieren 56 von 100 Fussgängerunfällen ausserhalb der markierten Übergänge, 36 – was beträchtlich ist – auf Fussgängerstreifen, 4 bei Übergängen mit Mittelinsel und 4 bei solchen mit Lichtsignalanlage. Wir schaffen praktisch keine neuen Übergänge mehr ohne Mittelinsel, jedenfalls auf Hauptstrassen. Um den Verkehr zu beruhigen, versuchen wir auch, die einzelnen Massnahmen wie Wohnstrassen, Fussgängerzonen, Tempo-30-Zonen, Geschäftsstrassen oder auch das neue Instrument der “Flanierzone” besser aufeinander abzustimmen.
In Basel hat mehr als die Hälfte der Leute kein Auto, hier ist es bloss ein Viertel…
Ich denke, das ist eine Frage der Mentalität. Die Kreise, die das Auto repräsentieren, waren in Genf immer sehr präsent. Ab den Sechzigerjahren setzte man voll und ganz aufs Auto. Nun muss es uns gelingen zu zeigen, dass es mindestens so vorteilhaft ist, zu Fuss zu gehen oder Velo zu fahren. Es gilt, sich in der Stadt wieder anders zu orientieren. Die Leute wissen nicht mehr, wie weit man zu Fuss in 10 Minuten kommt.
Sie bleiben optimistisch?
Anders könnte ich diese Arbeit nicht machen. Stadtplanung braucht einen Schuss Idealismus und ist ein Langzeitprogramm.